7. Es beliebte, diesem (Wunder) ein weiteres Wunder anzufügen, das man ebenso fürchten wie bestaunen muss und anhand dessen man die Standhaftigkeit ihres Geistes sowie ihre unerschütterliche Charakterfestigkeit erkennen können wird. Sie hatte Ute, die Tochter ihrer Schwester, bei sich, die sie von frühster Kindheit an erzogen und mit jeglicher Bildung, sogar mit Kenntnissen des weltlichen Schrifttums, ausgestattet hatte. Diese (= Ute) war ihrer Tante ebenso sehr aus Liebe zur Religion wie aufgrund persönlicher Zuneigung ins Kloster gefolgt und hatte die Weihe empfangen. Als sie (= Kunigunde) deren Ausdauer bei den Gebeten, den nächtlichen Andachten und beim Fasten sowie ihre allseitige Geduld erkannte, setzte sie sie, da sie in allen Belangen hinreichend ausgebildet war, auf die Bitten aller hin und unter allseitiger Zustimmung in diesem Kloster als erste Äbtissin ein. Als aber die Mutter ihre Tochter empfing, wiederholte sie neben der heiligen Ermahnung, die sie schon lange erhalten hatte die Ansprachen der Vorväter und redete ihr zu, stets zu sprechen, was dem Streben nach Heil zuträglich und Gott gefällig sei, häufig zuzuhören, die gewohnten Pfade und Wege der Religion nicht zu verlassen, (sondern) vielmehr die Irrwege und Lügen des Teufels mit Füßen zu treten; bei den Dienern Gottes, so lehrte sie, gebe es keine Gemeinschaft (= gemeinsames Auftreten, gleichzeitiges Vorhandensein) von Licht und Schatten, Wahrheit und Lüge, Schlechtigkeit und Anstand. Sorgfältig solle sie darauf bedacht sein, dass sie nicht durch unwerte Beschäftigung aufhöre, ein Heiligtum Gottes zu sein, und zu einer Wohnstatt der Finsternis, zu einem Siegesdenkmal des Teufels werde. Ihre Augen solle sie stets auf das Antlitz Gottes richten. Als erste (= als Äbtissin) solle sie ihre Anweisungen befolgen, auf dass sie mit Gottes Hilfe im Himmel die Früchte ihrer Unterweisung finden könne. Und während sie ihr dies und derlei immer und immer wieder mit mütterlichem Eifer einprägte, begann sie selbst ehrfürchtig in ihr (= ihrer Tochter) eine gleichsam in jeder Hinsicht bereits vollkommene Lehrmeisterin zu erblicken. Nachdem diese (= Ute) aber zu früh ihre Freiheit erlangt hatte, begann sie in ihrer Charakterfestigkeit nachzulassen, nach einer angenehmeren Lebensweise, vornehmeren Speisen und Nahrung für Laster zu trachten; sie war die letzte im Chor, die erste bei Tisch, begann an dem Gerede der Mädchen teilzuhaben und sich in jeglicher Hinsicht weniger diszipliniert zu verhalten. Für derlei Leichtfertigkeit rügte die Heilige Gottes (= Kunigunde) sie des öfteren sowohl privat unter vier Augen als auch öffentlich im Beisein aller, beschwor und schalt sie; sie aber, wohl im eitlen Vertrauen auf die schützende Hand und Freundschaft ihrer Tante, besserte sich nicht. Und eines Tages, als sie (= Kunigunde) zusammen mit dem Konvent dem Kreuz folgte es war nämlich Sonntag , fehlte die Äbtissin. Als sie nach ihr suchte, fand sie sie in ihrer Stube beim Mahl mit ihren Altersgenossinnen; gewappnet mit dem Eifer der Frömmigkeit, stieß sie ein Wort des Tadels aus und schlug sie auf die rechte Wange, welche gleichsam wie ein Siegel die Form der Finger annahm; (diesen Abdruck) behielt sie zeitlebens. Im Hinblick auf diesen Vorfall steht freilich fest, dass sie dies nicht nur um ihrer selbst, sondern (auch) um der Besserung anderer willen erlitt, damit ihr Anblick anderen nütze und sie von ihren Lastern zu einem besseren Leben bekehre.
(Übersetzung: Eike Schmidt)