Über Hermann von Reichenau sind wir durch sein eigenes Werk und das seines Schülers Berthold verhältnismäßig gut informiert. Er wurde 1013 als Sohn Hiltruds und des Grafen Wolfrad von Altshausen (Saulgau) geboren. Seine Großmutter väterlicherseits war eine Schwester Bischof Ulrichs von Augsburg gewesen, der 993 heilig gesprochen wurde, was in der Familie voll Stolz erinnert wurde. Hermann war von Geburt an schwer körperbehindert. Da er nicht gehen konnte, war er zeitlebens auf einen Tragstuhl angewiesen, auf dem er auch nur mit Mühe sitzen konnte. Sogar das Sprechen bereitete ihm Problem. Dennoch wurde er einer der größten Gelehrten seiner Zeit. Im Alter von sieben Jahren übergaben ihn seine Eltern dem Kloster Reichenau, wo bereits sein Oheim Rudpert lebte. Später trat auch sein jüngerer Bruder Werner in den Konvent ein. Trotz seiner Behinderung wurde Hermann 1043 zum Priester geweiht. Als Lehrer genoss er aufgrund seiner Liebenswürdigkeit und Gelehrtheit großes Ansehen. Wissenschaftlich beschäftigte er sich mit Musik, Arithmetik, Astronomie und Geschichte. Zu allen Bereichen hat er Schriften hinterlassen. Sein berühmtestes und wohl eigenständigstes Werk ist seine Chronica.
Ihm gelang es, die erste genaue Chronographie des christlichen Zeitalters auf deutschem Boden zu schreiben. Er setzte mit Christi Geburt ein und trug die historischen Ereignisse bis gegen Ende seines eigenen Lebens zusammen. Die großartige Leistung bestand darin, ausschließlich in Jahren nach Christi Geburt zu datieren. Was für uns heute die selbstverständliche Form der Zeitrechnung ist, war für Hermann ein fast unmögliches Unterfangen. In seinen Quellen fand er die unterschiedlichsten Zählweisen: nach Konsuln, Herrscher- und Papstjahren. Die verschiedenen Angaben zu unterschiedlichen Ereignissen mussten synchronisiert werden, um einheitlich in Jahren nach Christi Geburt angeordnet zu werden. Hermann standen also viele relative Chronologien zur Verfügung, die er in eine absolute umrechnen musste.
In der Forschung hat es eine lange Kontroverse darüber gegeben, ob Hermanns Leistung eine gänzlich eigenständige gewesen sei. Unter anderem nahm man an, dass er sich zumindest teilweise auf eine Quelle stützen konnte, die heute verloren ist und die man als "Schwäbische Weltchronik" bezeichnet. Inzwischen ist man zur der Erkenntnis gelangt, dass der Verfasser dieser Weltchronik Hermann selbst war: Nach einem ersten Versuch, der noch mit einigen Fehlern behaftet blieb, gestaltete er ab 1048 eine Endfassung, die er bis in sein Todesjahr 1054 fortführte. Seine Chronica hat keine weiter Verbreitung gefunden, nur zwei Handschriften haben sich erhalten, die eine stammt wahrscheinlich aus dem Kloster Einsiedeln, die andere aus St. Emmeram (Regensburg). Allerdings wurde sein Konzept aufgegriffen und fortgeführt. Ohne die gedankliche Leistung Hermanns, der auch den Beinamen "der Lahme" trägt, ist die Entwicklung der deutschen Chronographie kaum denkbar. Einer derjenigen, der in dieser Tradition steht, ist beispielsweise Frutolf von Michelsberg.
(Tania Brüsch)