(Heinrich erneuert seine Urkunde von 1007 über die Beilegung des Gandersheimer Streites zwischen Erzbischof Willigis von Mainz und Bischof Bernward von Hildesheim. Werla 1013.)
Im sogenannten Gandersheimer Streit ging es um die bischöflichen Rechte über das Kanonissenstift Gandersheim. Die Auseinandersetzungen hatten 987 begonnen wurden nacheinander von den Bischöfen Osdag, Bernward und Godehard von Hildesheim auf der einen sowie den Erzbischöfen Willigis und Aribo von Mainz auf der anderen Seite geführt. Das schlagkräftigste Argument der Mainzer war das Kirchenrecht, denn Gandersheim lag in der Mainzer Diözese. Die Hildesheimer hingegen hatten über anderthalb Jahrhunderte hindurch bischöfliche Funktionen wahrgenommen, ohne dass von Mainzer Seite jemals dagegen protestiert worden war. Man hatte sich in Hildesheim die Rechte quasi "ersessen". Heinrich II. bemühte sich nun um eine Beilegung des jahrelangen Konflikts. Auf einer Synode zu Weihnachten 1006 in der Pfalz Pöhlde zwang er die Kontrahenten, sich dem Synodalbeschluss zu beugen, der zugunsten des Bistums Hildesheim ausfiel.
Das Diplom Heinrichs II. aus dem Jahr 1013 gehört zu den Stücken mit einer besonderen Geschichte: Das Original wurde im Jahr 1007, sicherlich im Anschluss an die Synode, ausgefertigt. Da es sich um ein Dokument handelte, das für die Hildesheimer Kirche von besonderem Wert war, ließ Bischof Bernward angeblich ein Kopie anfertigen, was zu dieser Zeit noch nicht unbedingt üblich war. Aufgrund dieser Abschrift, deren Echtheit und Existenz sich allerdings nicht mehr beweisen lässt, soll der Inhalt erhalten geblieben sein, als 1013 beim Hildesheimer Dombrand das Original zusammen mit anderen wichtigen Urkunden vernichtet wurde. Anhand der "Kopie" fertigte man eine neue Urkunde an, die von Heinrich II. mit einem Vollzugsstrich im Monogramm beglaubigt und von der königlichen Kanzlei besiegelt wurde. Der Vollzugsstrich ist durch die hellere Tinte gut zu erkennen, das Siegel ging verloren. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Hildesheimer Bischofs- und Kaiserurkunden überstand diese Neuausfertigung den Brand des Staatsarchivs Hannover im Jahr 1943 und ist deshalb heute noch als "neues" Original vorhanden.
In der Forschung gab es lange Zeit Zweifel an der Echtheit des DH II. 255, die inzwischen jedoch durch intensive Handschriftenstudien und Textvergleiche größtenteils ausgeräumt wurden. Dennoch bleiben einige Probleme um die Formulierungen bestehen. So passt die Zeugenliste nicht in das Jahr 1013, denn einige der genannten Bischöfe waren bereits verstorben. In der Forschung gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Einer davon besagt, dass der Urkundentext vielleicht einschließlich Zeugenliste aus der vermeintlichen Kopie des Originals übernommen wurde. Die Neuausfertigung wurde durch Hinzufügung von Eschatokoll mit Siegel, Monogramm und Datum durch Heinrich II. und seine Kanzlei bestätigt. Einer anderen These zufolge trug man die Zeugenliste nach und schrieb sie aus einem Synodalprotokoll des Jahres 1007 ab. Dafür spricht auch ihr Platz in der Urkunde: Die Zeugenliste wurde in einer Spalte am linken Rand des Pergaments, unterhalb des Kontextes neben Signum- und Rekognitionszeile wiedergegeben. Die "Wiederherstellung" der verbrannten Urkunde von 1007 könnte sich also folgendermaßen abgespielt haben: Nicht eine von Bernward zu verantwortende Abschrift hat den Dombrand überstanden, sondern das Protokoll der entscheidenden Weihnachtssynode. Dies muss nicht einmal in Hildesheim gewesen sein, denn weitere Exemplare können genauso gut anderswo die wenigen Jahre von 1007 bis 1013 überdauert haben. Man fertigte D. 255 also nicht nach Vorlage der ursprünglichen Urkunde bzw. ihrer Abschrift, sondern anhand des Protokolls an. Inhaltlich macht das keinen Unterschied, denn auch mit der verbrannten Urkunde wollte Heinrich II. ja nur den Synodalbeschluss von seiner Seite für die Betroffenen verbindlich machen. Mit dieser Annahme werden zwar der Wortlaut, nicht aber die Einzelbestimmungen von D. 255 infrage gestellt.
Weitere Hinweise sprechen für die Echtheit der Urkunde. Die Zeugenliste wurde von dem Notar GB in Buchschrift geschrieben. Er wurde in den letzten Zeilen von einem anderen Schreiber abgelöst, der nicht nur eine typisch Hildesheimer Schrift schrieb, sondern auch noch in einem anderen Hildesheimer Werk eindeutig identifiziert werden kann. Er ist als zweite der beiden Haupthände in einer Bibel nachzuweisen, die Bischof Bernward dem Michaelskloster in Hildesheim schenkte. Damit nicht genug, es lassen sich weitere Hinweise auf die Entstehungsgeschichte finden. Der Notar GB schrieb bis auf die kleine Ausnahme am Ende der Zeugenliste die gesamte Neuausfertigung. Der Notar, der seit 1013 einer der am häufigsten nachzuweisenden Schreiber in der königlichen Kanzlei Heinrichs II. ist, muss zuvor Kleriker im Umfeld Bischof Bernwards von Hildesheim gewesen sein. Zwei ungewöhnliche Formulierungen der von ihm 1013 geschriebenen Urkunde lassen sich in Hildesheimer Handschriften nachweisen. Die Unterschriftsformeln von König und Erzbischof bleiben bis zur Stauferzeit einzigartig und stammen aus einem angelsächsischen Synodaltext des 8. Jahrhunderts. Ebenfalls ungewöhnlich ist der Passus, mit dem der König eingesteht, er habe sich bisher der Wahrheit entzogen (veritatem subterfugimus). Er stammt möglicherweise aus einer Hildesheimer Sammelhandschrift zum Kirchenrecht, an deren Niederschrift auch Thangmar, der Lehrer Bischof Bernwards, beteiligt war. Sogar der inhaltliche Zusammenhang passt, denn in einer vermutlich fiktiven Papstansprache werden Herrscher und Fürsten zu Umsicht, Zucht und Gerechtigkeit angehalten und ermahnt, gerade nicht gegen die "Wahrheit" zu handeln. Zusammengefasst: Der Notar GB stammte vermutlich aus Sachsen und war am bischöflichen Hof in Hildesheim als Schreiber tätig. In dieser Funktion war er an der Abfassung von mindestens zwei Königsurkunden für Hildesheim beteiligt. Seit Februar/März 1013 ist er dann in der königlichen Kanzlei Heinrichs II. nachzuweisen. Als sein erstes dort ausgefertigtes Diplom gilt das vorliegende DH II. 255.
Allerdings gibt es daneben auch die Auffassung, dass die Urkunde zu großen Teilen auf das Diktat Heinrichs II. zurückgeht. Viele Formulierungen seien so ungewöhnlich, dass sie nur vom Herrscher selbst stammen können; zum Beispiel ist die Corroboratio in der ersten Person Singular verfasst. Auch die Kritik an Willigis bzw. die Selbstbezichtigung Heinrichs könne man nicht mit der Eigenmächtigkeit eines Notars erklären. Vielleicht liegt die Lösung zwischen den verschiedenen Erklärungsansätzen: Ein aus Hildesheim kommender, mit der Materie vertrauter Notar wird mit der Abfassung beauftragt. So lassen sich Hildesheimer Einflüsse ebenso wie Abweichungen von den Gewohnheiten der königlichen Kanzlei erklären. Da man auch bei anderen Urkunden annimmt, dass Heinrich II. einzelne Sätze, die ihm besonders wichtig waren, persönlich diktierte, kann man Ähnliches auch hier vermuten, ohne allerdings diese Sätze einwandfrei identifizieren zu können.
Trotz vieler offener Fragen haben wir also neben den Bischofsviten Bernwards und Godehards mit der Urkunde von 1013 eine weitere wichtige Quelle zum Gandersheimer Streit vorliegen. Sie vermittelt zwar ebenso wie die Viten im Großen und Ganzen eine Hildesheimer Perspektive, lässt aber als einzige Quelle zum Gandersheimer Streit auch andere Einflüsse erkennen. Der vielleicht einzige Beleg hierfür steht am Ende der Narratio. Dort heißt es, Bernward habe die Verschleierung der Nonnen autorisiert. Wenn man hieraus schließt, dass er sie nicht allein vorgenommen, sondern zum Teil anderen Bischöfen, vor allem Willigis von Mainz überlassen habe, so weicht diese Aussage von der Hildesheimer Position ab, denn in der Vita Bernwardi nimmt allein Bernward die Verschleierung der Nonnen (velatio ancillarum bzw. virginum) vor. Zudem wird man alle Teile der Urkunde in der königlichen Kanzlei sehr sorgfältig geprüft haben, zumal das Interesse Heinrichs II. groß war auch dann, wenn man vom Eigendiktat absehen will.
(Tania Brüsch)