Im Jahr 929 übertrug König Heinrich I. seiner Gemahlin Mathilde seinen Besitz in verschiedenen sächsischen Orten als Wittum, darunter auch sein Erbgut in Quedlinburg. Nach dem Tod Heinrichs I. 936 und seiner Beisetzung in Quedlinburg gründete die Königin Mathilde das Kanonissenstift St. Servatius, wo sie 968 ebenfalls ihre letzte Ruhestätte fand. Damit begann der Aufschwung für den Ort im nordöstlichen Harzvorland. Quedlinburg diente den Ottonenkaisern regelmäßig als Stätte von Hoftagen und wurde reich beschenkt. Wiederholt begingen sie dort das Osterfest. Die Äbtissinnen waren Töchter (bzw. Schwestern oder Tanten) der Kaiser. Sie genossen hohes Ansehen und hatten großen politischen Einfluss. Kurz: Quedlinburg war eine der ersten Adressen im Reich.
Über die dort verfassten Annalen heißt es in einer gängigen Quellenkunde: "Die Quedlinburger Annalen, eine für die Geschichte Ottos III. und Heinrichs II. besonders ergiebige Quellen, sind von einem Geistlichen des Damenstifts St. Servatii (...) verfasst worden." In der Tat sind die oft sehr ausführlichen Jahresberichte eine herausragende Quelle für die sächsische und die Reichsgeschichte: Allerdings sieht man heutzutage keine Notwendigkeit mehr, einen Geistlichen als Autor anzunehmen. Einen solchen benötigten die Stiftsdamen zwar für gottesdienstliche Verrichtungen, die ohne Priesterweihe nicht möglich waren. Die Ausbildung in diesem renommierten Stift dürfte jedoch so gut gewesen sein, dass einzelne Damen auch kreativ tätig wurden.
Die Niederschrift wurde ungefähr in den Jahren 1007/1008 begonnen. Für die älteren Jahresberichte zog man die verlorenen älteren Hildesheimer Annalen heran, die wiederum auf den ebenfalls verlorenen Hersfelder Annalen beruhen. Durch die Königsnähe existierte umfangreiches Wissen über die Ottonenpolitik im Stift, das die Autorin aus schriftlichen Quellen und mündlichen Erzählungen schöpfen konnte. Daher fließen für die Geschichte des 10. Jahrhunderts zunehmend eigenständige Informationen in die manchmal etwas schwülstigen Berichte ein. Darüber hinaus wurden Mitteilungen verarbeitet, die offensichtlich aus Halberstadt, Magdeburg und Gandersheim stammten. Seit 985 berichtet die Stiftsdame auch aus eigenem Erleben. Einen Bruch gibt es nach dem Jahr 1015: Die Berichte von 1016 bis 1019 sind verhältnismäßig knapp und wurden wohl erst 1020 nachgetragen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Schreiberin gewechselt hatte, was bei Annalen durchaus üblich war. Die Annales Quedlinburgenses sind nur in einer einzigen, recht späten Handschrift überliefert, die mit dem Jahr 1025 abbricht. Da die Jahresberichte jedoch als Vorlage für spätere Werke dienten, darf man vermuten, dass sie ursprünglich bis 1030 weitergeführt wurden.
Die Quedlinburger Annalen sind ein anschauliches Beispiel für situationsbezogene mittelalterliche Geschichtsschreibung. Die Nähe zu den Ottonen führte zu einer entsprechend positiven Darstellung ihrer Taten. Umso auffälliger ist der Bruch: Ab 1003 wird unverhohlene Kritik an Heinrich II. geübt. Ungeniert tadelt die Autorin Heinrichs Politik. Die Erklärung dafür ist der Verlust der Königsnähe, den man in Quedlinburg nicht verwinden konnte. Heinrich II. hatte zwar noch das Osterfest 1003 dort gefeiert, sobald er sich jedoch seines Königtums sicher fühlte, brach er mit dieser ottonischen Tradition. Das Stift wurde auch nicht mehr mit Schenkungen bedacht. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Sachsen 1002 für ihre Huldigung von Heinrich verlangt hatten, dass er zukünftig nur noch an bestimmten Orten Hoftage abhalten werde, und Quedlinburg war nicht unter diesen Orten. Jedoch hätte ihn ein solches Zugeständnis nicht von einem Besuch abhalten können. Aber nach zwei Aufenthalten im Jahr 1003 konnten weder die Grablege seiner Urgroßeltern noch die Äbtissin Adelheid, die Schwester des von ihm so oft gerühmten Vorgängers Otto III., seine Aufmerksamkeit erregen. In Quedlinburg fühlte man sich offenbar missachtet und vernachlässigt. Erst als Heinrich im Jahr 1014 der Äbtissin auch die Leitung der Frauenklöster Gernrode und Vreden übertrug, beginnen die Annalen milder zu urteilen. Die Stimmung im Quedlinburger Stift schlug endgültig um, als Heinrich II. 1021 an der Weihe der neu erbauten Stiftskirche teilnahm und dem Konvent eine reiche Schenkung machte. Der Tenor der Annalen ist also für den zeitgenössischen Teil auffällig situationsbezogen und spiegelt in aller Deutlichkeit das Selbstverständnis des Kanonissenstifts als königsnahe Institution wider.
(Tania Brüsch)