Seit 926 gehörte Cambrai zum ostfränkischen Reich, kirchenrechtlich jedoch zum Erzbistum Reims. Diese Grenzlage bestimmte die Geschichte des Bistums. Der erste Bischof, der in Cambrai selbst residierte, nachdem das Bistum seit der Mitte des 4. Jahrhunderts den Bischöfen von Arras oder Noyon unterstanden hatte, war der hl. Gaugericus (Géry, nachgewiesen zwischen 585 und 624-627). Unter Bischof Gerhard I. (1012-1051) erlebte das Bistum seine Blütezeit. Er stammte aus der Familie der Ardennengrafen und wurde an der Domschule von Reims unter anderem von Gerbert von Aurillac ausgebildet. Unter Heinrich II. gehörte er der Hofkapelle an und wurde von ihm 1012 zum Bischof von Cambrai ernannt. Zwar war er ein treuer Anhänger Heinrichs, konnte sich aber auch eine loyale Position gegenüber dem König von Frankreich bewahren. Durch diese Grundhaltung und großes politisches Geschick erlangte er erheblichen Einfluss. Auf seine Fürsprache hin wurde sein Verwandter Gottfried Herzog von Niederlothringen. Die Begegnung zwischen Kaiser Heinrich II. und König Robert II. von Frankreich im Jahr 1023 in Ivois-sur-Chiers kam nicht zuletzt durch seine Vermittlung zustande. Beide Herrscher verabredeten damals unter anderem eine Synode in Pavia, die aber wegen Heinrichs II. Tod nicht mehr zustande kam. Immerhin weist die Verabredung darauf hin, dass beide die Rollen von Kaisertum und französischem Königtum in ihrem Selbstverständnis als gleichberechtigte Säulen der Christenheit anerkannten. Auch auf dem Gebiet der Klosterreform in Lothringen war Gerhard sehr aktiv und stand Abt Richard von St-Vanne (Verdun) nahe, was ihn ebenfalls mit dem Kaiser verbunden haben dürfte.
Bischof Gerhard gab die Gesta episcoporum Cameracensium in Auftrag. Wohl aus diesem Grund, aber sicherlich auch wegen seiner Erfolge steht er im Mittelpunkt des Tatenberichts, der von einem Unbekannten, vielleicht einem Domherren, verfasst wurde. Die Gesta gliedern sich in drei Bücher. Das erste widmet sich der Geschichte der Bischöfe von Cambrai von den Anfängen bis zum Vorgänger Gerhards I. Das zweite Buch gibt einen Überblick über die zur Diözese gehörenden Kirchen und Klöster sowie die dort verehrten Heiligen, es ist also zugleich eine Art Bestandsaufnahme und Sakraltopographie des Bistums. Anschließend knüpft der Autor an das Ende von Buch I an und widmet Buch III allein dem Wirken Gerhards, der damit eine ganz außergewöhnliche Würdigung erfährt. Aus diesem Buch stammen die beiden hier ausgewählten Kapitel. Der Verfasser musste seine Arbeit mitten in Buch III unterbrechen, weil er an einem heftigen Fieber erkrankte, wie er selbst schreibt. Er nahm seine Tätigkeit noch einmal auf, verstarb aber wohl darüber. Ein ebenfalls unbekannter Verfasser führte sein Werk fort, beendete die Lebensgeschichte Gerhards und begann die seines Nachfolgers. Bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts wurden die Gesta von verschiedenen Autoren fortgesetzt. Das Werk zählt daher zu den wichtigsten Quellen für die Geschichte des nördlichen Frankreichs.
(Tania Brüsch)