Der aus Burgund stammende Radulfus Glaber ('der Kahle') gehört zu den schillerndsten Autoren seiner Zeit. Als Zwölfjähriger wurde er in ein Kloster gegeben, in der Hoffnung, dass er sich dort bändigen ließe. Sein Verhalten blieb jedoch so ungebührlich, dass er davongejagt wurde. Im Laufe der Jahre war er Mönch in Saint-Germain (Auxerre), Saint-Bénigne (Dijon) und in Cluny; nirgends hielt er es auf Dauer aus. Seine Historien begann er offenbar im Auftrag Abt Wilhelms von St-Bénigne während seines dortigen Aufenthalts. Er arbeitete an diesem Werk vermutlich bis zu seinem Tod (wohl 1047); zumindest fehlt ein ordentlicher Abschluss. Gewidmet hat er es Abt Odilo von Cluny. In jüngster Zeit erfreuen sich die Historien zunehmender Beliebtheit. Zwar trägt das Werk zu ereignis- und strukturgeschichtlichen Fragestellungen nicht viel bei, jedoch wird es im Bereich der Kulturgeschichte gern rezipiert. Seinen späten Ruhm verdankt Radulfus seiner Vorliebe für Absonderlichkeiten und Katastrophen aller Art: Wunder, Visionen, Himmelserscheinungen, Vorzeichen und Teufelswerk interessieren ihn ebenso wie Hungersnöte, Seuchen und Kannibalismus. Theologische Abhandlungen stehen neben naturphilosophischen Äußerungen und Aberglauben. Der von ihm beschworene Verfall der Sitten steht in engem Zusammenhang mit der Endzeiterwartung, die er besonders mit den Jahren 1000 und 1033 in Verbindung bringt.
Zwei Abschnitte sind im Folgenden ausgewählt. Der erste enthält eine sehr detaillierte Beschreibung eines Reichsapfels sowie eine Deutung desselben als Insignie. Heinrich II., der ihn von Papst Benedikt VIII. erhalten haben soll, schenkt ihn an das Kloster Cluny weiter. Auch durch andere Quellen ist belegt, dass Heinrich in gutem Verhältnis zu diesem Kloster und seinem Abt Odilo stand. Cluny galt als eines der wichtigsten Reformzentren. Jedoch bevorzugte Heinrich die Ausrichtung von Gorze. Während man in Cluny unter anderem die kirchliche libertas besonders schätzte und den Einfluss der Klosterherrn einzuschränken versuchte, blieb Gorze ein Eigenkloster des Bischofs von Metz. Diese Einstellung kam Heinrich sehr entgegen, da er einen großen Teil der Reichsklöster zwar hinsichtlich ihres Lebenswandels reformieren, dabei aber keinesfalls seinen Einfluss vor allem auf die Abtseinsetzungen verlieren wollte.
Die zweite Episode berichtet vom Herrschertreffen zwischen König Robert II. von Frankreich und Kaiser Heinrich II. im August 1023. Es war das zweite Treffen der beiden Herrscher, die 1006 schon einmal zusammengekommen waren. Auffällig ist, dass das Verhalten Roberts mit dem Verhalten der Kaiserin Kunigunde parallelisiert wird. Radulfus Glaber stellt so deutlich die Bescheidenheit seines Königs heraus, der sich mit dem Anteil der Kaiserin begnügt, während Heinrich II. noch zusätzlich das Evangeliar und das Reliquiar angenommen hat und wesentlich reicher beschenkt abzieht als Robert. Schon zu Anfang sind die von Robert angebotenen Geschenke wesentlich differenzierter dargestellt, so dass er auch unter dem Gesichtspunkt der Freigebigkeit vorteilhafter erscheint als Heinrich. Der Ehrenvorrang des Kaisers bleibt jedoch unberührt, da er die Voraussetzung für die inszenierte annähernde Gleichrangigkeit bildet; nur weil er "größer" war als Robert, konnte er ihm entgegenkommen, ohne dass sein Handeln als "geschuldete Hilfe" missdeutet wurde.
(Tania Brüsch, Klaus van Eickels)