Das Kloster der Heiligen Gallus und Otmer gehört zu den ältesten Reichsklöstern. Der Klostertradition zufolge gründete im Jahr 612 der Wandermönch Gallus eine kleine Zelle, die jedoch nach seinem Tod wieder zerfiel. Anfang des 8. Jahrhunderts kam es zu einer Neugründung durch den Alemannen Otmer. Unter seiner Leitung blühte das Kloster auf. Zunächst hatte die Abtei einige Konflikte mit dem Bischof von Konstanz auszustehen. Die andauernde Gunst der Karolinger führte jedoch zu Reichtum und zunehmender Unabhängigkeit. Um 747 soll König Pippin die Regula Benedicti im Kloster eingeführt haben. Ludwig der Fromme verlieh St. Gallen 818 die Immunität, und 858 wurde das Kloster schließlich von den Zinszahlungen an das Bistum Konstanz befreit. Diese Zeit bis zum Ungarneinfall 926 gilt als das "Goldene Zeitalter". Von der Zerstörung durch die Ungarn (926), die Sarazenen (935) und einen Brand (937) erholte sich St. Gallen nur langsam. Einer der Höhepunkte der folgenden Jahrzehnte war sicherlich der Besuch Ottos I. mit seiner Gemahlin Adelheid sowie dem Sohn und Thronfolger Otto II. und Schwiegertochter Theophanu im Jahr 972. Heinrich II. zeigte wenig Interesse an dem Reichskloster, einen wirklichen Abstieg erfuhr St. Gallen aber erst infolge des Investiturstreits.
Während die benachbarte Reichsabtei auf der Bodenseeinsel Reichenau durch die Kunst und insbesondere die Malerei berühmt wurde, verdankte St. Gallen seinen Ruhm eher seiner Gelehrsamkeit und seiner Schule. Dies spiegelt sich auch in den Annales Sangallenses maiores wider, die über einen verhältnismäßig langen Zeitraum geführt wurden. Sie zerfallen in zwei Teile, der erste umfasst die Jahresberichte von 709 bis 1024, eine Fortsetzung die Jahre 1025 bis 1044. Für die Einträge bis 956 arbeitete nur ein Schreiber an den Annalen, die bis 1024 von mehreren Männern fortgeführt wurden. Die Fortsetzung stammt dann wieder von einer Hand.
Während für die ersten rund zweihundert Jahre ältere Quellen herangezogen wurden, wird der Bericht der größeren St. Galler Annalen von 919 an zunehmend selbständiger. Neben wertvollen Informationen über die Politik der Ottonenkönige bzw. -kaiser ist vor allem die Fülle von Nachrichten charakteristisch, die Lebensumstände im Bodenseeraum betreffen. Der Erwähnung von Naturereignissen, Hungersnöten und Seuchen, denen die Menschen hilflos ausgeliefert waren, wird in dem Teil der Annalen bis 1024 sehr viel mehr Platz eingeräumt als allgemeinhin üblich. Die St. Galler Schule trägt ihre Früchte, wenn manche Meldungen in Verse oder die Worte antiker Schriftsteller gekleidet werden. Beispielsweise ist der Abschnitt von 971 bis 1015, der insgesamt knapper ausfällt, zum Teil in Hexametern und Distichen abgefasst. Einen Eindruck davon, wie sich Politik, Angst und Not der Menschen mit der Gelehrsamkeit der Bodenseemönche verbanden, vermittelt der Jahresbericht von 1013, der vom Italienzug Heinrichs II., einer unheimlichen Himmelserscheinung und einer Seuche kündet.
(Tania Brüsch)