Thietmar von Merseburg, Chronik

Thietmar wurde im Jahr 957 geboren. Seine Eltern gehörten einflussreichen sächsischen Adelsfamilien an: Sein Vater war Graf Siegfried von Walbeck, seine Mutter war die Tochter des Grafen Heinrich von Stade. Thietmar hatte mindestens fünf überlebende Geschwister. Seine Schwester Oda wurde verheiratet, sein Bruder Heinrich trat als Graf in die Fußstapfen des Vaters, Friedrich wurde Burggraf in Magdeburg und zwei Brüder so wie Thietmar Bischöfe: Siegfried in Münster und Brun in Verden.
Thietmar erhielt seine Ausbildung in bedeutenden geistlichen Einrichtungen Sachsens: Als Kind wurde er im Damenstift Quedlinburg unterrichtet, und im Alter von 13 Jahren gab ihn sein Vater in das Magdeburger Kloster Berge. Zu seinen Lehrern zählte auch Brun von Querfurt. Nach seiner Ausbildung blieb er in Sachsen, wurde Mitglied des Magdeburger Domkapitels und im Jahr 1002 Propst des Familienstifts Walbeck. Am 21. Dezember 1004 weihte ihn sein Förderer Erzbischof Tagino von Magdeburg in Gegenwart König Heinrichs II. zum Priester. Tagino war es auch, der ihn weiterhin beim König empfahl. So setzte Heinrich II. den sächsischen Grafensohn 1009 als Bischof von Merseburg ein. Damit gehört Thietmar zu den Bischöfen, die nicht den in der ottonisch-salischen Reichskirche häufigen und daher als üblich angesehenen Weg über die Hofkapelle nahmen. Als Bischof widmete er sich vor allem dem Auf- und Ausbau seines Bistums, das 981 von Kaiser Otto II. aufgehoben und von Heinrich II. 1004 wiederhergestellt worden war.
Die Chronik Thietmars gehört zu den wenigen historiographischen Quellen des früheren Mittelalters, die als Autograph überliefert sind. Die Handschrift lässt neun unterschiedliche Hände erkennen, darunter Thietmars eigene; er fügte auch später persönlich noch Randbemerkungen hinzu. Der Codex wurde also überwiegend nach Diktat oder Konzept geschrieben. Thietmar verfasste seine Chronik in der Zeit von 1012 bis zu seinem Tod 1018. Es handelt sich um eine Art Reichschronik, die die politischen Geschicke der Ottonenzeit behandelt. Formal gliedert sie sich in acht Bücher. Inhaltlich ist diese Gliederung bereits Programm: Die Bücher I bis IV handeln von den ottonischen Königen bzw. Kaisern Heinrich I., Otto I., Otto II. und Otto III., die Bücher V bis VIII befassen sich mit der Zeit Heinrichs II. Thietmar betrachtet Heinrich II. also gleichsam als End- und Höhepunkt ottonischer Königsherrschaft.
Thietmar hat drei Ziele, die er im Prolog zum ersten Buch formuliert: Er will die Lebenswege der reges Saxonie, der Könige Sachsens, verfolgen. Darin eingebettet erzählt er die Geschichte seiner Kirche, des Merseburger Bistums, von der Errichtung unter Otto I., der Katastrophe ihrer Aufhebung unter Otto II. und der Wiederherstellung unter Heinrich II. Diese Informationen sollten seinem Nachfolger im Bistum dabei helfen, die Existenz der Kirche und ihren Besitzstand zu wahren. Mit der Chronik bittet Thietmar aus Sorge um sein Seelenheil, die zukünftigen Merseburger Bischöfe und alle Leser für ihn zu beten.
Durch Witz und Ironie, kritische Selbstbetrachtungen und autobiographische Anteile, die tiefe Einblicke in die sächsische Adelsgeschichte des 9. und frühen 10. Jahrhunderts ermöglichen, gehört Thietmar zu den eindrucksvollsten Zeugen seiner Zeit. Da Thietmar einerseits Heinrich II. aufgrund seiner Verdienste um Merseburg eng verbunden war, andererseits wiederholt Kritik am König übt, zeichnet er ein differenziertes Bild des Herrschers, zumal er seinen sächsischen Verwandten und Freunden nicht minder verbunden war. Wie sehr er hier verwurzelt war, zeigen seine zahlreichen, meist abträglichen Bemerkungen über Italiener und Slaven, Lothringer, Bayern und andere Nicht-Sachsen. Was nicht sächsisch war, erschien ihm fremd, ja manchmal sogar bedrohlich. Die Vorstellung, dass dereinst ein König nicht mehr aus einer sächsischen Familie stammen könnte, war ihm unerträglich. Vielleicht war diese Einstellung ein Grund dafür, dass er Heinrich II., der doch Bayern viel verbundener war als Sachsen, auf sächsische Wurzeln zurückführte, obwohl Thietmar die Spannungen zwischen dem ehemaligen Bayernherzog und dem sächsischen Adel durchaus erkannte.
Nicht zuletzt aufgrund der Nähe zu den Ereignissen gehört Thietmar zu den wichtigsten Quellen über Heinrich II. Wegen der Vielschichtigkeit seiner Motive und der oft so plastischen Darstellungen ist jedoch bei der Interpretation Sorgfalt geboten. Zweifellos war er durch seine familiären Verbindungen gerade über die Verhältnisse im Norden und Osten des Reiches sehr gut informiert. Wie viel er jedoch als Augenzeuge erlebte, was ihm andere erzählten und dabei schon zu ihren Gunsten veränderten, was davon Thietmar für seine eigenen Zwecke auswählte und noch einmal gestaltete, ist oft nur schwer zu erkennen. Gerade die Anschaulichkeit und die oft präzisen Angeben täuschen leicht darüber hinweg, dass er nicht mehr und nicht weniger seine Intentionen verfolgte als andere mittelalterliche Historiographen.
Aus seiner Chronik lassen sich daneben aber auch deutlich persönliche Eigenschaften herauslesen. Vieles davon mag für die Zeit durchaus typisch gewesen sein, tritt uns jedoch autobiographisch nur sehr selten so augenscheinlich entgegen: ein starkes Empfinden für die eigene Sündhaftigkeit, damit verknüpft die Sorge um das Seelenheil, eine enge Verbundenheit mit der Familie sowie eine ausgeprägte Teufels- und Wundergläubigkeit. Ein weiterer Charakterzug, der diesen Bischof als Chronisten für uns einzigartig macht, ist seine Fähigkeit zur Selbstironie. Thietmar starb am 1. Dezember 1018 und wurde im Merseburger Dom beigesetzt.
Neben dem bereits erwähnten Autograph ist die Chronik Thietmars in einer weiteren Handschrift des 12. Jahrhunderts überliefert. Sie beruht auf der von Thietmar selbst überarbeiteten Fassung, enthält darüber hinaus aber einige Interpolationen aus dem Kloster Corvey. In der kritischen Edition der MGH sind beide Texte gut vergleichbar einander gegenüber gestellt. Der folgende Text beruht auf dem des Autographen, an den Stellen jedoch, wo dieser zum Zeitpunkt der Edition bereits Lücken aufwies, wird auf den Text der späteren Handschrift zurückgegriffen. Die in Klammern angegebene Kapitelzählung verweist auf die alte Edition der MGH von Lappenberg.
(Tania Brüsch)

(Quellverweis) g.
(Tania Brüsch)

(Quellverweis)