Eike von Repgow, Sachsenspiegel

Eike von Repgow stammte vermutlich aus einer edelfreien Familie, die über Besitz in dem Dorf Reppichau (zwischen Dessau und Köthen) verfügte. Eike lässt sich urkundlich im Raum zwischen Elbe und Harz nachweisen. Er war überdurchschnittlich gut gebildet und offensichtlich Lehnsmann des Grafen Hoyer von Falkenstein. Auf dessen Veranlassung hin schrieb Eike das zu seiner Zeit gültige sächsische Recht nieder und bezeichnete sein Werk als Spegel der Sassen ('Spiegel der Sachsen'). Der Abfassungszeitraum lässt sich verhältnismäßig genau datieren: Der jüngste Rechtstext, der noch Eingang in seine Sammlung fand, stammt aus dem Jahr 1220, während die Gründung des Herzogtums Braunschweig von 1235 keine Berücksichtigung mehr erfuhr. Da Eike zudem letztmals in einer Urkunde von 1233 als Zeuge auftritt, darf man davon ausgehen, dass seine Niederschrift aus der Zeit von 1220 bis 1233/35 stammt und er selbst zwischen 1233 und 1235 verstarb.
Der Sachenspiegel ist in zwei Teilen abgefasst: Landrecht und Lehenrecht. Sehr deutlich zeigt der Inhalt beider Bücher, wie sehr Eike bei aller Bildung in der bäuerlich-adligen Welt des Ritters verhaftet war. So interessieren ihn zum Beispiel die aufstrebenden Städte überhaupt nicht. Vielmehr widmet er sich den bäuerlichen Rechtsverhältnissen, dem Zusammenleben im Dorf, dem Erbrecht, dem Strafrecht und dem ordnungsgemäßen Verlauf von Gerichtsverfahren. Auch Sonderinteressen wie die von Klerikern, Juden und Reisenden, mit denen man regelmäßig konfrontiert wurde, fanden Berücksichtigung. Darüber hinaus verwandte er viel Mühe auf lehnrechtliche Fragen wie die nach Berechtigungen am ­ faktisch schon erblich gewordenen ­ Lehngut. Räumlich meinte Eike Sachsen in der von ihm erwähnten Ausdehnung zu erfassen: Sachsen erstreckte sich über 16 Bistümer, nämlich Naumburg, Merseburg, Meißen, Brandenburg, Havelberg, Kammin, Halberstadt, Hildesheim, Verden, Paderborn, Osnabrück, Minden, Münster, Lübeck, Schwerin und Ratzeburg. Freilich muss man davon ausgehen, dass er zum Zeitpunkt der Niederschrift nur das in seinem Lebensraum, also im östlichen bzw. südöstlichen mittelalterlichen Sachsen bekannte Recht erfasste. Ob und wieweit man im Westen und Norden davon abwich, lässt sich nicht mehr klären, da wir über keine vergleichbaren Aufzeichnungen aus diesen Gegenden verfügen.
Nach eigener Auffassung schrieb Eike das seit undenklicher Zeit mündlich überlieferte Recht der Sachsen nieder:


Dit recht hebbe ek selve nicht irdacht,
it hebbet van aldere an unsik gebracht
Unse guden vorevaren.


Dies Recht habe ich mir nicht selbst ausgedacht,
Es ist uns vielmehr seit alters von
unseren rechtschaffenen Vorfahren überliefert worden.

(Vorrede 151ff.)Irgendwelchen Veränderungen war das Recht nach Eikes Verständnis nicht unterworfen gewesen. Forschungen zur mündlichen Überlieferung von Texten aller Art haben allerdings einer sehr viel differenzierteres Bild ergeben: Einerseits konnte mündliche Tradition recht flexibel auf Neuerungen im Zusammenleben reagieren. Gerade wenn man im Rechtsleben den Sachverhalt tradierte und Recht nach Erinnerung an vergleichbare Fälle sprach, konnten sich unmerklich Veränderungen einschleichen. Andererseits führten Mnemotechniken zu erstaunlichen Gedächtnisleistungen, die auch lange Texte ohne Veränderungen im Wortlaut über sehr lange Zeiträume überliefern konnten. So sind uns heute noch manche Wendungen der mittelalterlichen Rechtssprache ­ wenn auch nicht immer in ihrer ursprünglichen Bedeutung ­ geläufig: "mit Kind und Kegel", "über Jahr und Tag". So verwundert es auch nicht, dass Eikes erster Niederschrift auf Latein kein Erfolg beschieden war. Nur vom lehenrechtlichen Teil seines Sachsenspiegels ist uns etwas erhalten geblieben, beim Landrecht ist man sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine lateinische Urfassung gab. Zwar begann das Lateinische als Schrift- und Rechtssprache im 13. Jahrhundert sowieso an Bedeutung zu verlieren, aber gerade die Verhaftung in der mündlichen Tradition des sächsischen Rechts dürfte zu dem grandiosen Erfolg der schriftlichen Fixierung in der elbostfälisch-niederdeutschen Mundart Eikes von Repgow geführt haben. Der Sachsenspiegel gilt als das erste deutsche Prosawerk und wurde zum Vorbild für zahlreiche andere Rechtsbücher.
Die Urfassung sowie die Überarbeitungen Eikes sind nicht mehr erhalten, die ältesten Handschriften stammen aber noch aus dem 13. Jahrhundert. Der Siegeszug des Sachsenspiegels ist an seiner Verbreitung abzulesen: Wir wissen von über 340 Landrechts- und knapp 100 Lehenrechtstexten, die meistens in niederdeutscher, aber auch niederländischer oder mitteldeutscher Mundart abgefasst sind. Daneben findet man einige Übersetzungen ins Lateinische, wohingegen oberdeutsche Texte eher selten sind. Ab 1474 wurde der Sachsenspiegel auch gedruckt. Berühmt ist er außerdem wegen der Bilderhandschriften, von denen vier erhalten geblieben sind. In diesen treten die bildlichen Darstellungen der Rechtssätze gleichberechtigt neben die Texte.
Die im Folgenden ausgewählten Abschnitte entstammen dem Landrecht. Der erste befasst sich mit Fragen der Verwandtschaft und des Erbrechts: Diejenigen, die im gleichen Grad mit dem Erblasser verwandt und erbberechtigt waren, erbten zu gleichen Teilen. Der zweite Auszug nennt die Orte, an denen der König in Sachsen Hoftage halten durfte. Obwohl man bei beiden Texten die Gültigkeit nur für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts sicher annehmen darf, spricht manches dafür, dass die Sätze in ihrer inhaltlichen Substanz sehr viel älter sind. Die Art, Verwandtschaft anzugeben, dürfte so oder so ähnlich auch schon im 8. Jahrhundert vorhanden gewesen sein, denn damals begannen die "germanischen" Rechte, die in diesem Bereich ähnlich wie der Sachsenspiegel lauteten, das kanonische Recht zu beeinflussen. Die daraus resultierenden Probleme beschäftigten auch noch Heinrich II. in seinem Kampf gegen die Verwandtschaftsehe, wie im Fall des Hammersteiner Grafenpaars. Der zweite Textauszug geht möglicherweise unmittelbar auf die Zeit Heinrichs II. zurück. So ist anzunehmen, dass die Sachsen im Vorfeld ihrer Huldigung im Jahr 1002 Heinrich II. die Zusage abrangen, Hoftage nur an den genannten Orten abzuhalten. Auf dem Weg zum Königtum konnte er diese Beschränkung seiner Handlungsfreiheit in Sachsen nicht abwenden, da er noch nicht über ausreichend Rückhalt im Reich verfügte.
(Tania Brüsch)

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