Die beiden Autorinnen Olga Martynova (li.) und Silke Scheuermann gestalteten den Auftakt zum "West-Östlichen-Sofa". (Fotos: Severin Spies)

Friedhelm Marx lud an zwei Abenden je zwei Stipendiaten der Villa Concordia zum Gespräch, hier haben Matthias Göritz (li.) und Oleg Jurjew auf dem Sofa Platz genommen.

Begegnung von Ost und West

Deutsche und russische Autoren im Gespräch

Das Pult im Hörsaal der U5 ist ein wenig zur Seite gerückt. An seiner Stelle steht eine braune Ledercouch. Mit einem Stapel Bücher in der Hand nimmt die aus Leningrad stammende Olga Martynova Platz, rechts neben ihr kramt Silke Scheuermann in ihren Gedichtauszügen. Beide Frauen sind Stipendiatinnen des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Zur Hälfte aus Deutschland, zur Hälfte aus Russland stammt der aktuelle Stipendiatenjahrgang. Vier der derzeit in der Villa Concordia wohnenden Künstler sind im Bereich Literatur tätig – Silke Scheuermann, Matthias Göritz, Olga Martynova und Oleg Jurjew. Unter dem Titel „West-Östliches Sofa“ sprechen die Autorinnen und Autoren über Inspiration, Sprachspiele und Lieblingsgedichte.

Eine kleine Premiere

Anklänge an Goethes umfangreiche Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ im Titel der Veranstaltung sind nicht ganz unbeabsichtigt: In Goethes als „Großwerk des Dialogs“ gefeiertem Buch spiegeln sich Ost und West gleichermaßen. Einladen zum Dialog und Brückenbauen soll auch die Veranstaltung, die Prof. Dr. Friedhelm Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Organisator der Vortragsreihe, als „Experiment“ ankündigt: „Ein solches Format hat es bisher nicht gegeben. Bisher fanden im Rahmen von Literatur an der Universität ausschließlich Lesungen einzelner Autoren statt.“

Den Auftakt der Veranstaltungsreihe machen am 20. November Olga Martynova und Silke Scheuermann. Die beiden Autorinnen sind in der Lyrik und Prosa gleichermaßen beheimatet. Und beide hat die Liste ihrer Auszeichnung und Autorenstipendien quer durch das Land und rund um den Globus geführt. Scheuermanns Lyrik wurde von der Stadt Darmstadt mit dem renommierten Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet, Martynova erhielt  im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Formstrenge und lose Wortspiele

„Scheuermann verwendet ein breites Spektrum lyrischer Formen“, unterstreicht Marx die Vielseitigkeit, die Scheuermanns Lyrik auszeichnet. Der Band „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“ versammelt eine Reihe von Gedichten, die in den Jahren 2001 bis 2008 entstanden sind. Darin finden sich Prosagedichte ebenso wie Gedichte, die an Mustern der klassischen Literatur ausgerichtet sind. Der mit dem Titel „Vogelflüge“ überschriebene Sonettenkranz etwa vereint klassische Formstrenge und radikale Bildsprache. „Die Einschränkung der Form ist wie ein Spiel. Ein wenig, als würde man Perlen auffädeln,“ beschreibt Scheuermann ihren Schaffensprozess.

Und hat gleich ein paar Gedichte jüngeren und älteren Datums im Gepäck. Unter dem Titel „Dem ehemals häufigstem Vogel der Welt“ widmet sie der Wandertaube Martha ein Gedicht, beklagt die Ausrottung der Artgenossen Marthas und erinnerte sich sehnsuchtsvoll an die Zeit, als die Wandertauben die ersten europäischen Auswanderer waren und Amerika erreichten. Ein paar Jahre sind vergangen, da hat Martha wieder Artgenossen: „Die geklonte Taube“, einige Jahre später entstanden, fragt mit poetischen Mitteln nach, ob die Manipulation von Erbgut legitim ist.

Über Genregrenzen hinweg

„Mörikes Schlüsselbein“ ist der zweite Roman aus der Feder Martynovas. Für das Kapitel „Ich werde sagen: ,Hi!‘“ wurde die Autorin 2012 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Ebenso geistreich wie leichtfüßig stellt sich die Episode dar, die Martynova hieraus für die Vortragsreihe ausgewählt hatte. Sie liest vom jungen Moritz, der die Sommerferien bei seiner langweiligen Tante Anita auf dem Land verbringt, sich in die hübsche, muslimische Eisverkäuferin verguckt und nachts Geschichten erfindet. Später wird Moritz Schriftsteller. Es geht um Künstlertum. Aber auch um kleine Ehelügen und ein harmonisches Familienleben. Selbst Fantasy und kriminologisches Erkunden haben im Roman ihren Platz. „Meine Idee war es, dass jedes Kapitel auch als eigenständiges Prosastück gelesen werden kann“, erklärt Martynova.

Teamarbeit und Brückenbauen

Zuletzt hat Scheuermann noch einen kleinen Wunsch an Martynova. Einen Auszug aus ihrem Gedichtband „Von Tschwirik und Tschwirka“ solle sie lesen, den mag sie so gern. In den Gedichten schickt Martynova ein Paar von Fabelwesen auf eine Reise ohne Ziel: Zugvögeln gleich fliegen Tschwirik und Tschwirka von Kontinent zu Kontinent und beäugen das Leben, das sich dort tummelt. „Das geht nicht“, entgegnet Martynova kopfschüttelnd. Ihre Prosa verfasse sie auf Deutsch, für die Gedichte bevorzuge sie aber nach wie vor das Russische. Und die deutschen Übersetzungen vorzulesen, sei sie nicht gewohnt. Dann eben Teamarbeit: Scheuermann liest einen Absatz auf Deutsch, Martynova wiederholt ihn auf Russisch. Im klangvollen Dialog miteinander klingt der Abend aus. Erster Teil des Experiments geglückt.

Hinweis

Diesen Text verfasste Andrea Lösel für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.

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