Zum Untersuchungsfeld Verbraucherfinanzen und Verbraucherbildung

Die reale Welt der Finanzdienstleistungen zeigt anders als die neoklassischen Markt- und Portfoliooptimierungsüberlegungen, dass es offensichtlich gute Gründe für die Existenz eines Finanzsystems gibt, mit Anbietern aus den Bereichen Banken und Sparkassen, Versicherungen, Investmentfonds etc. Arbeitsteiliges Wirtschaften erfordert in der Regel einen Ausgleich zwischen dem Finanzierungsbedarf einzelner Wirtschaftssubjekte und dem Anlagebedarf anderer Wirtschaftssubjekte (Unternehmen, Verbraucher, Staat).

Eine solche Tätigkeit von Finanzunternehmen für Verbraucher führt folgerichtig zu den aus der Realität bekannten Problemen der Informations-, Gestaltungs- und Betroffenheitsasymmetrien, da Verbraucher ja gerade deswegen die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, weil sie selbst Informationen benötigen, weniger kompetent in der Handhabung von Verträgen sind (Gestaltung) oder negative Ergebnisse fürchten (Betroffenheit). Viele Leistungen, die Gegenstand der Anlage- oder Finanzierungsberatung sind, werden als Vertrauensgüter dadurch charakterisiert, dass auch nach einer beratenen Entscheidung eine abschließende Qualitätsbeurteilung unter Zeit- und Kostenaspekten nicht vollständig möglich ist.

Für Finanzdienstleistungen ist zudem typisch, dass eine deutliche (zeitliche) Divergenz zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, die (Nicht-) Realisierung des Leistungsversprechens also oft in ferner Zukunft liegt. Hinzu kommt, dass die meisten Verbraucher, wohl aber auch Mitarbeiter bei Anbietern oder politische Entscheider, bei der Informationswahrnehmung und Informationsverarbeitung, der Erwartungsbildung oder in den Entscheidungskriterien sowie bei den Entscheidungen selbst nicht-rationale Verhaltensweisen zeigen, also solche, die nicht mit dem rein theoretischen Bild des „homo oeconomicus“ oder „homo portfolicus“ der neoklassischen Markt- und Portfoliooptimierungsüberlegungen kompatibel sind. Reinhard Selten, deutscher Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat dazu einmal angemerkt: „Der Mensch ist komplexer als die Annahme, er entscheide sich wohlinformiert für seinen größtmöglichen Nutzen.“
Dies betont eindringlich, welch hohe Bedeutung der Thematisierung der Verbraucherfinanzen („household finance“) und der Verbraucherbildung („financial literacy“) zukommt.

Aufgrund der kurz erörterten Charakteristika, insb. der Komplexität der Informations- und Entscheidungssituationen, haben Verbraucher meist einen hohen Informationsbedarf sowohl bezüglich der Analyse ihrer eigenen wirtschaftlichen und finanziellen Situation heute und in Zukunft als auch hinsichtlich der potentiellen Problemlösungen. Berater und Finanzvermittler können hier grundsätzlich helfen, die vorhandenen Lücken zu schließen, und Entscheidungshilfe leisten. Gleichzeitig entsteht mit der Delegation bestimmter Informations- und Beratungs- sowie Problemlösungsleistungen an Finanzvermittler eine Prinzipal-Agenten-Situation.

Dies ist zwar zunächst nur natürlich, da ja gerade der Berater oder Finanzvermittler als Spezialist gewählt wird, weil er mehr Kenntnisse, Erfahrungen und Problemlösungspotential besitzen könnte und so die Informations- und Entscheidungsprobleme des Verbrauchers abbauen soll. Auf den zweiten Blick wird aber mit dieser Delegation erkauft, dass der Verbraucher nun seinerseits wieder die Qualität, Befähigung, Erfahrung etc. des Beraters oder Finanzvermittlers hinsichtlich der benötigten Informations-, Beratungs- und Problemlösefähigkeit einschätzen muss, da der Verbraucher durch die Folgen der Entscheidungen und des Rates Dritter (Finanzvermittler) meist selbst asymmetrisch stärker betroffen sein dürfte.

Solcherlei Asymmetrien lassen sich jedoch nur durch Vergleichsprozesse unter Transparenz ansatzweise lösen, wobei dafür staatliche oder selbstregulierende Vorgaben/Standards notwendig werden, die zu überwachen sind (Monitoring). Zudem kann eine intensivierte Verbraucherbildung, die sich – ausgehend von einem Basiswissen – auf eine Meta-Bildung konzentriert, also sich vom Leitbild des omni-kompetenten Multispezialisten als „mündigem“ Verbraucher wegbewegt, Lösungsansätze aufzeigen. Meta-Bildung fokussiert hierbei auf die Informationssuche und Informationsanalyse mit dem Ziel, Informationen zur Kompetenz und Glaubwürdigkeit von Informationen und Informationsquellen zu erhalten, um die jeweilige Problem- und Entscheidungssituation grundsätzlich zu lösen, ohne für jedes Problem aktuelles und umfangreiches Spezialwissen zu benötigen.

Selbst wenn man bereits mit einer eingeschränkten Informationsmündigkeit und Kenntnis, also z.B. mit einer Vorinformation aus Publikationen der Stiftung Warentest oder von Verbrauchersendungen im Fernsehen und Radio, und damit nach einer grundlegenden Sensibilisierung als Verbraucher daran geht, Angebote zu Finanzdienstleistungen einzuholen und zu vergleichen, sind deutlich Barrieren erkennbar, eine solche Teilhabe am Wettbewerb überhaupt zu leisten. Die eher größere Zahl von potentiellen Nutzern, die schon diese Sensibilisierung und „Vorbildung“ nicht aufweist, hat dann noch deutlich geringere Chancen. Es fehlen oft entweder klare Angaben zu den Kostenkomponenten (z.B. Abschluss- und Vertriebskosten, Folgekosten) oder den Risiken oder die Angaben sind aus Sicht der Verbraucher nicht verständlich. Zudem gibt es in der Regel keine Angaben zu den tatsächlichen Kosten und dem physischen und psychischen Aufwand eines Anbieterwechsels. Zusätzlich ist zwischen den Problemlagen der analogen und der digitalen Welt zu unterscheiden.

Die Problematik der empirisch regelmäßig belegten gravierenden Beratungsmängel und ihrer monetären Folgen, insbesondere im Kontext langfristig bedeutsamer Altersvorsorge- oder Finanzierungsentscheidungen, wird wesentlich dadurch verstärkt, dass gerade die Verbraucher, die einer qualifizierten und interessengerechten Unterstützung am meisten bedürften, am schlechtesten beraten werden bzw. den geringsten Nutzen aus einer Anlageberatung ziehen. Eine Studie der EU kommt zu dem Schluss: „There is growing evidence, that consumers often do not obtain suitable advice on financial services. The financial crisis further drew attention to deficiencies in the advice given to consumers at point of sale, leading people to purchase inappropriate products.“ (SEC(2009) 1251 final, 2).

Obwohl kundenorientierte Vertriebsstrukturen längst seit den 1980er Jahren in der Finanzpraxis eingeführt und verbreitet sind (z.B. Kundenwertansätze im „Customer Relationship Management (CRM)“ mit „Customer Lifetime Value (CLTV)“), scheint deren Anwendung aus Gründen eher kurzsichtiger Gewinnorientierung und kundenferner Verkaufsziele und -praktiken zumindest bei einigen Anbietern deutliche Mängel aufzuweisen („Die Provisionsmaschine“, SZ 30.8.2010, 19), sodass auch in der Branche selbst besonders schwache Ergebnisse in der Bedarfsanalyse oder im Nachkontakt kritisiert werden (concertare 2010). 87% der Kunden wünschen sich dagegen mehr einfache und besser verständliche Finanzprodukte (TNS infratest/ING-Diba 2010) und suchen zu 74% Sicherheit (Union Investment 2010).